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Interview des Botschafters der Republik Belarus in der Bundesrepublik Deutschland Denis Sidorenko mit der Zeitschrift Wostok

09.06.2023 г.

Die offiziellen Beziehungen zwischen der Republik Belarus und der EU sowie Deutschland befinden sich aktuell wohl auf dem tiefsten Stand seit Erlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1991, wenngleich zumindest die Botschaften beider Länder ihre Arbeit fortsetzen. Belarus wird wie die Russische Föderation einem Sanktionsregime seitens des Westens unterworfen, dessen Auswirkungen auch die ärmsten Länder der Welt spüren. Der am 1. März 2023 neu berufene Koordinator der Bundesregierung für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit dem Südlichen Kaukasus, der Republik Moldau sowie Zentralasien Robin Wagener soll künftig „zentraler Ansprechpartner innerhalb der Bundesregierung für die Kontakte zur demokratischen und regierungskritischen belarussischen und russischen Zivilgesellschaft im Exil“ sein.

Die Konfrontation zwischen dem kollektiven Westen und Russland bestimmt seit über einem Jahr das politische Leben. Was sich in Belarus getan hat, geriet dabei, wenn es nicht unmittelbar mit dem Ukraine-Konflikt verbunden war, gleichweise in Vergessenheit. Ein lang angekündigtes Verfassungsreferendum fand in Belarus im Februar 2022 statt. Was hat sich getan, was wird verändert. Wie wirkt sich die geopolitische Lage auf den Verfassungsprozess aus?

Das Verfassungsreferendum, das im Februar 2022 in der Republik Belarus stattgefunden hat, wurde zu einem wichtigen Meilenstein in der Entwicklung des belarussischen Staates und der Gesellschaft in unserem Land.

Die Hauptziele der Verfassungsreform waren die Festigung der belarussischen Staatlichkeit und der Stabilität des nationalen Rechtssystems, die Gewährleistung einer progressiven wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung des Landes unter Berücksichtigung der nationalen Traditionen, der aktuellen Herausforderungen und der nicht gerade einfachen internationalen Lage.

Die für das Referendum vorgelegten Änderungen der Verfassung wurden von der Sonderverfassungskommission unter Berücksichtigung der Ergebnisse der zuvor stattgefundenen breiten und offenen gesellschaftlichen Diskussion vorbereitet. Sie wurden von der absoluten Mehrheit der Bevölkerung des Landes unterstützt. Im Laufe des Referendums haben 82,86 Prozent der Beteiligten für die Verfassungsänderungen gestimmt.

Die angenommenen Verfassungsänderungen sehen unter anderem eine wesentliche Umverteilung der Befugnisse der Machtzweige vor, insbesondere durch die Erhöhung des Status und die Erweiterung der Kompetenz des Verfassungsgerichts und des Parlaments, sowie durch die Schaffung eines neuen Verfassungsorgans – der Allbelarussischen Volksversammlung (AVV), die ihre historischen demokratischen Traditionen in Belarus hat.

Im Rahmen der Implementierung der Referendumsergebnisse und der entsprechenden Verfassungsänderungen wurde eine Reihe von Gesetzen erarbeitet und verabschiedet, darunter das Gesetz über die Allbelarussische Volksversammlung, das aktualisierte Wahlgesetzbuch, die geänderten Gesetze über die Nationalversammlung und über den Ministerrat der Republik Belarus sowie über politische Parteien und gesellschaftliche Vereinigungen. Die Tätigkeit im Bereich der Anpassung der Gesetzgebung an die neue Verfassung wird fortgesetzt.

Für Februar 2024 sind in Belarus die Parlaments- und Kommunalwahlen geplant. Den Wahlen folgend werden die Mitglieder der Allbelarussischen Volksversammlung gewählt. Mit der Bildung der AVV der ersten Legislaturperiode wird der Prozess der Verfassungsreform im Großen und Ganzen faktisch abgeschlossen sein.

Belarus hatte seit 1996 den Status eines atomwaffenfreien Staates. Kritik wurde daran geübt, dass Belarus seinen atomwaffenfreien Status mit dem Verfassungsreferendum 2022 aufgegeben hat. Nun hat Russland die Stationierung russischer taktischer Atomwaffen in Belarus im Rahmen des Belarussisch-Russischen Unionsstaates angekündigt. Wie steht Ihr Land im Allgemeinen zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen und vor allem den Atomwaffenverbotsvertrag, der allerdings von keiner der offiziellen und inoffiziellen Atomwaffenstaaten unterstützt wird?

Die Republik Belarus ist ein konsequenter Befürworter der nuklearen Abrüstung und der Nichtverbreitung von Atomwaffen.

Im Jahr 1993 hat sich Belarus bewusst für den Verzicht auf Nuklearwaffen entschieden und ist dem Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen (NVV) beigetreten. Dabei war Belarus der erste Staat im postsowjetischen Raum, der freiwillig auf die Möglichkeit des Besitzes von Atomwaffen ohne Vorbedingungen und Vorbehalte verzichtet hat.

Im Dezember 1994 unterzeichneten Russland, die USA und Großbritannien in Budapest das Memorandum über die Sicherheitsgarantien im Zusammenhang mit dem Beitritt der Republik Belarus zum Vertrag über die Nichtverbreitung von Atomwaffen und verpflichteten sich, die territoriale Integrität und die Souveränität von Belarus zu garantieren sowie auf jegliche politischen und wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen zu verzichten. Die Republik Belarus ist jedoch seit langem einem beispiellosen politischen, wirtschaftlichen, finanziellen und Informationsdruck ausgesetzt, insbesondere seitens der USA und Großbritanniens, was eine direkte Verletzung der Bestimmungen des Budapester Memorandums darstellt. Darüber hinaus sind die einseitigen Zwangsmaßnahmen im Bereich der Politik und der Wirtschaft vom Aufbau des Militärpotenzials in den benachbarten NATO-Ländern in unmittelbarer Nähe zu unseren Grenzen begleitet.

Angesichts dieser Umstände und der daraus resultierenden legitimen Bedenken und Risiken im Bereich der nationalen Sicherheit unternimmt Belarus erzwungene Gegenmaßnahmen, um die eigene Sicherheit und Verteidigungsfähigkeit zu festigen. Es sei hier betont, dass die militärische Zusammenarbeit zwischen Belarus und Russland vollständig mit dem Völkerrecht übereinstimmt. Die Ausbildung belarussischer Piloten, die Flugzeuge mit spezifischer Munition steuern können, die Modernisierung solcher Flugzeuge sowie auch die geplante Stationierung russischer Atomwaffen auf dem Territorium von Belarus widersprechen den Bestimmungen Vertrages über die Nichtverbreitung von Atomwaffen nicht. Im Rahmen der NATO existiert seit langem die Praxis der „gemeinsamen Atommissionen“ (atomare Teilhabe), die Flugzeuge der an der Allianz beteiligten Länder sind für Flüge mit Atomwaffen zertifiziert, die Ausbildung für solche „Missionen“ sowie die entsprechenden Militärübungen werden durchgeführt. Auf dem Territorium der europäischen Mitgliedsländer der NATO, einschließlich Deutschlands, sind mehr als 150 Einheiten taktischer US-Atomwaffen gelagert. 

Was den Vertrag über das Verbot von Kernwaffen betrifft, hat die Republik Belarus an seiner Erarbeitung nicht teilgenommen und ist auch keine Vertragspartei. Zum jetzigen Zeitpunkt geht Belarus davon aus, dass die Schaffung von Formaten, die den Nichtverbreitungsvertrag duplizieren, nicht förderlich ist für die weitere nukleare Abrüstung und die Festigung des globalen Nichtverbreitungsregimes. Belarus befürwortet ein ausgewogenes und schrittweises Vorgehen im Bereich der atomaren Abrüstung, die eines der strategischen Ziele des Vertrags über die Nichtverbreitung von Atomwaffen ist, um diesem Prozess einen multilateralen und irreversiblen Charakter zu verleihen.

Die belarussische Seite ist davon überzeugt, dass die konfrontative Rhetorik und die sich aufbauende Spirale des Wettrüstens durch einen konstruktiven und respektvollen Dialog ersetzt werden soll, der die Architektur der globalen und der regionalen Sicherheit, sowie die multilateralen Mechanismen in den Bereichen der Abrüstung, der Nichtverbreitung von Atomwaffen und der Rüstungskontrolle, auch im Nuklearbereich, festigen wird. Dazu haben wir alle unsere Partner aufgerufen und werden das auch weiterhin tun.

Minsk war Vermittler im Ukrainekonflikt – siehe die Minsk-Abkommen 2014 und 2015. Die ersten Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine zur Beendigung des Krieges seit Februar 2022 fanden an der belarussischen Grenze statt. Wie steht Belarus zum Ukraine-Konflikt? Die internationalen Einschätzungen reichen von der Mittler-Position bis zur unterstellten Kriegspartei? Präsident Lukaschenko reiste in diesem Frühjahr nach China – unterstützt Minsk das 12-Punkte Positionspapier der Volksrepublik China zur Konfliktlösung? Und wie gestalten sich die Beziehungen zur Ukraine? Nimmt Belarus Flüchtlinge auf, in welchen Dimensionen?

Angesichts der in hohem Maße tragischen Geschichte von Belarus und des belarussischen Volkes, einschließlich der enormen menschlichen Verluste im Laufe des Zweiten Weltkrieges, ist Frieden für die Belarussen von fundamentaler Bedeutung.

In diesem Zusammenhang setzt sich die Republik Belarus konsequent für eine rasche friedliche Beilegung des militärischen Konflikts in der Ukraine durch diplomatische Verhandlungen ein und ist bereit, diesen Prozess auf jede mögliche Weise zu unterstützen, zum Beispiel durch die Schaffung einer Plattform für Friedensverhandlungen in allen Formaten auf belarussischem Territorium. Gerade auf dem belarussischen Boden wurden in den Jahren 2014 und 2015 die sogenannten Minsker Vereinbarungen ausgearbeitet, die eine für alle Verhandlungsbeteiligten annehmbare Lösung der Ukraine-Krise gewährleisten sollten. Leider wurden diese Vereinbarungen nicht umgesetzt.

Ende Februar und Anfang März 2022 hat Belarus erneut die Durchführung der russisch-ukrainischen Verhandlungen auf seinem Territorium initiiert, um die Kriegshandlungen zu beenden und eine diplomatische Lösung auszuloten. Die damals stattgefundenen drei Verhandlungsrunden gaben Grund zur Hoffnung auf eine mögliche Kompromisslösung und legten die Grundlage für die sogenannte „Istanbul-Formel“. Heute kann man nur bedauern, dass dieser Prozess vereitelt wurde und die einmalige Gelegenheit verpasst wurde, weitere menschliche Opfer und Zerstörungen zu vermeiden.

Ich möchte betonen: Belarus nimmt an den Kriegshandlungen in der Ukraine nicht teil und ist keine Partei dieses Konflikts. Alle von der Republik Belarus unternommenen Schritte zwecks der Gewährleistung und der Festigung der eigenen Sicherheit, darunter im Rahmen des Bündnisses mit Russland und der damit verbundenen Verpflichtungen, sind ausschließlich defensiv.

Die Positionen der Republik Belarus und der Volksrepublik China im Bereich der internationalen Sicherheit stimmen weitgehend überein. In der im Laufe des vor kurzem stattgefundenen Staatsbesuchs des Präsidenten von Belarus Alexander Lukaschenko in China verabschiedeten gemeinsamen Erklärung über die Entwicklung der Beziehungen und der allseitigen strategischen Partnerschaft zwischen beiden Ländern in der neuen Epoche wurde unter anderem das Interesse beider Seiten an der raschen Schaffung von Frieden in der Ukraine und der Verhinderung der Eskalation der Krise unterstrichen. In dieser Hinsicht begrüßt die Republik Belarus das chinesische „Positionspapier“.

Angesichts der langen gemeinsamen Grenze von mehr als 1000 Kilometern, der traditionellen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Verbindungen zwischen unseren Ländern und Völkern ist Belarus selbstverständlich an normalen Beziehungen mit der Ukraine in der Zukunft interessiert. Die Tatsache, dass die ukrainische diplomatische Vertretung ihre Tätigkeit in Minsk weiterhin fortsetzt, ist auch Zeugnis der Bewahrung der Kontakte und unseres Interesses daran.

Belarus ist für Flüchtlinge und gezwungene Aussiedler aus der Ukraine offen. Seit Februar 2022 sind nach Angaben des Staatlichen Grenzkomitees der Republik Belarus etwa 90000 ukrainische Bürger in unser Land eingereist. Allen Bedürftigen wurde die notwendige humanitäre und andere Unterstützung geleistet.

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten stellen Belarus im Bereich der Sanktionen auf eine Stufe mit Russland. Welche Sanktionen greifen und wie wirken sie sich real aus? 

Seitens der USA und der Europäischen Union wurde Belarus bereits seit längerem zum Ziel von einseitigen, völkerrechtswidrigen und unter anderem zu den Verpflichtungen im Rahmen der OSZE in Widerspruch stehenden restriktiven Maßnahmen, darunter wirtschaftlichen.

Dieses negative und schädliche Vorgehen hat in den letzten Jahren beispiellose Ausmaße und einen präzedenzlosen Charakter angenommen. Unter konstruierten Vorwänden werden Sanktionen gegen ganze Sektoren der belarussischen Wirtschaft verhängt. Unter den Folgen leiden vor allem die einfachen belarussischen Bürger. Darüber hinaus wird dem internationalen Handel erheblicher Schaden zugefügt, die seit Jahrzehnten etablierten Kooperations- und Logistikverbindungen in der Region werden zerstört, die humanitären Projekte und die Kontakte zwischen den Menschen werden behindert, insbesondere infolge der sanktionsbedingten Einstellung des Flugverkehrs zwischen unseren Ländern. Einzelne restriktive Maßnahmen gegen Belarus wirken sich indirekt auch auf andere Länder der Welt negativ aus. So haben zum Beispiel die Sanktionen gegen die belarussische Kaliindustrie zur Erhöhung der Preise für Dünger und landwirtschaftliche Produkte auf den internationalen Märkten beigetragen, wodurch die globale Ernäh-rungssicherheit gefährdet wurde.

Letztendlich haben die von der Europäischen Union gegen Belarus verhängten Sanktionen eine erhebliche gegenseitige Wirkung und kehren als Bumerang auch in die EU-Länder zurück. Dabei wird den europäischen Geschäftskreisen und den Bürgern der EU-Mitgliedsstaaten Schaden zugefügt.

Trotz der objektiven negativen Auswirkungen der Sanktionen wird Belarus diese Herausforderung bewältigen, unter anderem durch die Neuausrichtung seiner wirtschaftlichen und anderen Beziehungen. Gleichzeitig hoffen wir, dass in den Bereichen, wo es möglich sein wird, die pragmatische Zusammenarbeit mit interessierten europäischen Partnern fortgesetzt werden kann. Wir sind jedoch überzeugt, dass eine solche kurzsichtige und kontraproduktive Sanktionspolitik der Europäischen Union nicht den Eigeninteressen der EU entspricht und die gemeinsamen Anstrengungen im Bereich der Wiederherstellung von Stabilität und Sicherheit in der Region schwächt.

Zu den Kriegstrommlern in EU-Europa gehören vor allem die baltischen Staaten und Polen. Wie gestalten sich die Beziehungen zu den direkten Nachbarn – Lettland, Litauen, Polen, mit denen Belarus ja ebenfalls historisch viel verbindet?

Unsere Beziehungen mit den unmittelbaren EU-Nachbarländern, insbesondere mit Litauen und Polen, sind derzeit ganz und gar nicht einfach.

Die Regierungen dieser Länder, mit denen uns auch historisch viel verbindet, haben leider eine absolut negativistische und konfrontative Einstellung gegenüber der Republik Belarus gewählt. Anstatt einen gegenseitig respektvollen Dialog und eine gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit zu entwickeln, unternehmen sie alles Mögliche, um zu versuchen, die Situation in Belarus zu destabilisieren und unseren bilateralen Beziehungen größtmöglichen Schaden zuzufügen.

Die offiziellen Vertreter dieser Länder verwenden in Bezug auf die Republik Belarus und ihre Führung eine inakzeptable und beleidigende Rhetorik. Grenz- und Zollkontrollpunkte werden geschlossen, immer neue Hindernisse für den grenzüberschreitenden Verkehr von Menschen und Waren werden geschaffen, einschließlich der Blockierung menschlicher Kontakte in Grenzgebieten und des Transits von belarussischen Waren über Seehäfen. An unserer Grenze werden neue Zäune und Stahlmauern gebaut, die den gemeinsamen Ökosystemen erheblich schaden, insbesondere im Nationalpark Belaweschskaja Puschtscha, der zu den letzten Tiefland-Urwäldern Europas zählt und zum UNESCO-Weltnaturerbe gehört.

Wir sind überzeugt, dass dies nicht die Wahl und nicht die Position der litauischen und der polnischen Völker ist.

Trotz aller feindlichen Erklärungen und Handlungen seitens Vilnius und Warschau demonstriert Belarus weiterhin Offenheit und Dialogbereitschaft. So, zum Beispiel, wurde von der belarussischen Seite vor dem Hintergrund der EU-Visabeschränkungen und der zunehmenden Behinderungen im Bereich des grenzüberschreitenden Verkehrs die einseitige Entscheidung getroffen, die visafreie Einreise für die Bürger Lettlands, Litauens und Polens einzuführen, die mindestens bis Ende 2023 gültig sein wird. Viele Besucher aus diesen Nachbarländern haben diese Möglichkeit schon genutzt.

Mit Blick auf die Beziehungen zur Europäischen Union und zu Deutschland, gibt es noch Kontakte zu den offiziellen Institutionen? Die deutsche Regierung lehnt Kontakte zu offiziellen belarussischen Institutionen ab, wie sieht es umgekehrt aus? Wie bewerten Sie, dass der neue Koordinator im Auswärtigen Amt „zentraler Ansprechpartner innerhalb der Bundesregierung für die Kontakte zur demokratischen und regierungskritischen belarussischen und russischen Zivilgesellschaft im Exil“ sein soll?

Der politische Dialog und die Beziehungen insgesamt zwischen Belarus und der Europäischen Union, sowie der Bundesrepublik Deutschland befinden sich derzeit wohl am tiefsten Punkt ihrer Entwicklung seit der Unabhängigkeit unseres Landes im Jahr 1991. Und dies ist sehr bedauerlich.

Im April dieses Jahres waren es genau 100 Jahre seit der Aufnahme der bilateralen belarussisch-deutschen diplomatischen Beziehungen. Dieses Jubiläum ist für uns leider nicht gerade ein festliches Ereignis, sondern ein Grund, ernsthaft darüber nachzudenken, wie unsere Beziehungen weiterentwickelt werden können.

In den letzten Jahren hat die deutsche Seite konsequent die offiziellen Kontakte und die Möglichkeiten für einen konstruktiven Dialog und die Zusammenarbeit Schritt für Schritt eingeschränkt. Viele bedeutende und vielversprechende bilaterale Projekte, darunter auch die Tätigkeit der im Jahr 2020 gegründeten Strategischen Beratungsgruppe Belarus-Deutschland, wurden nicht auf unsere Initiative ausgesetzt oder vollständig beendet. Das von Ihnen erwähnte Mandat des Koordinators für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit und eine Reihe anderer Instrumente der deutschen Bundesregierung zeigen deutlich, wie beschränkt und einseitig die deutsche Seite die Republik Belarus sowie die Zusammenarbeit mit unserem Land betrachtet und dabei die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung in Belarus faktisch ignoriert.

Einen erheblichen negativen Einfluss auf verschiedene Aspekte unserer Zusammenarbeit mit Deutschland hat auch die Sanktionspolitik der EU.

Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Situation weder den tatsächlichen Interessen von Belarus noch von Deutschland entspricht. Vielmehr widerspricht sie grundlegenden Interessen und Erwartungen der Bürger unserer beiden Länder.

Ungeachtet der aktuellen Herausforderungen und Schwierigkeiten bin ich zuversichtlich, dass unsere Zusammenarbeit mit Deutschland in der Perspektive wieder konstruktiv sein wird. Es gibt keine Alternative dazu. Die Zukunft unserer Beziehungen liegt in pragmatischer Partnerschaft und in guter europäischer Nachbarschaft.

Deutschland ist – bei allen aktuellen Meinungsverschiedenheiten – ein wichtiger Partner für Belarus in Europa. Aber auch die Republik Belarus als wesentlicher Bestandteil des regionalen Sicherheitssystems und als ein bedeutendes Transitland Osteuropas ist für die Bundesrepublik Deutschland von großer Bedeutung. Die Gewährleistung der Sicherheit, der Stabilität und der wirtschaftlichen Entwicklung liegt in unserem gemeinsamen Interesse. Es gibt eine ganze Reihe von grenzüberschreitenden Herausforderungen, Prozessen und Angelegenheiten, die nur durch gemeinsame Anstrengungen bewältigt und geregelt werden können. Hierbei handelt es sich um Themen wie nachhaltige Entwicklung und Klimawandel, die Migrationsströme und der eurasische Transit.

Belarus ist offen für einen gegenseitig respektvollen Dialog mit Deutschland in allen Fragen.

Viele deutsche Freundschaftsvereine und zivilgesellschaftliche Organisationen unterhalten traditionell und teils seit Jahrzehnten Beziehungen zu ihren Partnern in Belarus und umgekehrt? Wie gestaltet sich die Situation heute? Wer ist daran beteiligt beziehungsweise wer nimmt teil? Welche Möglichkeiten für zivilgesellschaftliche Kontakte gibt es, und welche sehen Sie?

Die gesellschaftlichen Beziehungen waren immer eine der wichtigsten integralen Komponenten der belarussisch-deutschen Zusammenarbeit.

Es ist erfreulich, dass sich die menschlichen Kontakte zwischen unseren Ländern und Völkern auch heute entwickeln, ungeachtet oder manchmal sogar entgegen der negativen Tendenzen im bilateralen politischen Dialog. Das betrifft unter anderem die Erhaltung des historischen Gedächtnisses, die zahlreichen humanitären Projekte, den Kultur- und Bildungsaustauch und die Städtepartnerschaften.

Zweifellos sind die Rahmenbedingungen für diese Zusammenarbeit deutlich komplizierter geworden. Es ist leider heute nicht mehr so einfach, dass sich die Partner in Belarus oder in Deutschland besuchen, obwohl Minsk und Berlin nur etwas mehr als 1000 Kilometer voneinander entfernt sind. Aber diejenigen, die an freundschaftliche Beziehungen glauben und sie schätzen, die von der exzeptionellen Bedeutung von Partnerschaft und Zusammenarbeit für die Zukunft überzeugt sind, überwinden alle Schwierigkeiten und Hindernisse. Die humanitäre Zusammenarbeit mit zahlreichen deutschen Initiativen, die seit über 30 Jahren Belarus und den Belarussen Unterstützung bei der Überwindung der Folgen der Tschernobyl-Katastrophe leisten, wird erfolgreich weiterentwickelt. Der Dialog zum Thema der gegenseitigen Versöhnung und des gegenseitigen Verständnisses im Kontext der historischen Verantwortung Deutschlands für die Verbrechen auf dem belarussischen Territorium während des Zweiten Weltkriegs findet nach wie vor statt. Auf regionaler Ebene treffen sich und arbeiten erfolgreich zusammen die Aktivisten der mehr als 20 Partnerschaften zwischen den Städten in Belarus und Deutschland. Im November 2022 fand in Minsk das 11. Treffen der Vertreter von Partnerstädten beider Länder statt, auf dem unter anderem die Fragen der sozialen Inklusion, der Umwelt und des Jugendaustausches diskutiert wurden.

Der Sport soll der Annäherung der Völker dienen. Bereits seit einigen Jahren erleben wir eine beispiellose Politisierung des Sports, werden insbesondere in westlichen Ländern Forderungen nach Ausschluss auch belarussischer Sportler bei internationale Großereignissen, wie etwa den Olympischen Spielen oder der UEFA-Meisterschaft, laut. Wie stehen Sie dazu?

Belarus verurteilt die zunehmende Politisierung des internationalen Sports und die Versuche, den Sport und die Sportler für politische und sogar geopolitische Zwecke zu nutzen. Der Sport soll zur Vereinigung und nicht zur Trennung beitragen.

Die Forderungen und die Entscheidungen über den Ausschluss der Sportler aus internationalen Wettbewerben aufgrund ihrer Staatszugehörigkeit stellen reine Diskriminierung dar, widersprechen den olympischen Prinzipien und schaden strategisch der olympischen Bewegung. Besonders inakzeptabel und unmoralisch ist es, wenn dadurch auch Behindertensportler und paralympische Wettbewerbe betroffen sind.

Wir rechnen damit, dass alle Entscheidungen auf diesem Gebiet in der Zukunft nur im Interesse der Sportler getroffen werden, für die Sport das Leben bedeutet.

Belarussische Sportler waren immer ein Teil des internationalen Sports, sie werden es auch sein. Mit ihren Ergebnissen und Rekorden werden sie weiterhin zu den Leistungsentwicklungen im Weltsport beitragen.

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